Was reicht, um große Freiheit zu empfinden?

Eine Nacht im Freien am Glafsfjorden

 Es ist etwa ein Uhr nachts, als ich nach gut dreistündiger Fahrt von Göteborg in Stömne ankomme. Die Nächte werden zu dieser Jahreszeit – es ist Ende Juli – auch im südlichen Schweden nicht ganz dunkel. Es bleibt immer ein Restlicht, das stets den Horizont erkennen lässt und die Abenddämmerung geht nahtlos in die Morgendämmerung über. In diesen nordischen Sommernächten herrscht also permanent nautische Dämmerung, bei der es nie ganz dunkel wird. Die astronomische Dämmerung, auf die tiefe Nacht folgt, fällt in Skandinavien im Sommer schlicht aus.
 Ich habe das Gefühl, ich hätte noch ewig weiter durch die Nacht gen Norden fahren können, empfinde keine Müdigkeit. Die beiden Kaffee auf dem Fährschiff Stena Varga, mit dem ich von Frederikshavn nach Göteborg übergesetzt bin, tun ebenso ihren Dienst wie die frische Nachtluft, die durch den offenen Fensterspalt ins Fahrzeuginnere dringt. Tina Dicos „Swedish Skies“ lasse ich in Endlosschleife laufen.
So geht es auf der E45 strickt nordwärts bis kurz hinter Åmål. Dort verlasse ich den Inlandsvägen, um über Nebenstraßen mein Ziel Stömne zu erreichen. Nur vier mal muss ich während der Fahrt die Geschwindigkeit wegen Wildwechsel verringern. Zwei Füchse, ein Reh und eine Elchkuh passieren vor mir die Straße. Ich hätte mit mehr gerechnet.

Nachdem ich den Volvo auf dem Parkplatz von Stömnegården abgestellt habe, dem Camp von Rucksackreisen, das anderntags Ausgangspunkt der einwöchigen Seekajaktour auf dem Vänern sein wird, schnappe ich mir Schlafsack und Thermomatte. Ich will den Rest der Nacht unter dem großen Sternenzelt auf der Plattform am Ende eines Stegs am Glafsfjorden verbringen und dort den Sonnenaufgang erleben. 
Als ich mich aufmache, die paar hundert Meter zum Steg zu laufen, geht ein rötlicher Halbmond am östlichen Nachthimmel auf. Die Dunkelheit der Nacht beginnt bereits zu schwinden und die Rotfärbung des Himmels im Nordosten wird stärker. Ich laufe ein Stück die Straße zurück und biege auf einen alleeartigen Schotterweg ab, der am Steg mit seinem Plateau endet, auf dem ein paar Bänke und Tische stehen. Vom Plateau aus eröffnet sich ein wunderbarer Blick über den Glafsfjorden hin zu dessen östlichem Ufer. 

Ich lasse mich zunächst an das Geländer des Plateuas gelehnt auf dem Boden nieder und denke, dass ich bis Sonnenaufgang einfach wach bleibe. Es ist warm, kurze Hose und ein leichter Vliespulli reichen vollkommen aus. Der Schlafsack bleibt zunächst in seiner Hülle. 
Mir gegenüber zeichnet der inzwischen höher gewanderte Mond eine goldene Bahn über das schwarze Wasser des Glafsfjorden, der eigentlich kein richtiger Fjord ist, sondern ein über viele Kilometer lang gestreckter See mit Flussverbindung zum Vänern. 
Kaum ein Geräusch ist zu hören. Hie und da bellt ein Hund in der Ferne. Ab und an zerreißt Motorlärm eines auf der Landstraße vorbeifahrenden Autos die Stille. Eine Weile höre ich das Geräusch eines anderen Tieres, das ich nicht zuordnen kann. Vielleicht ein Fuchs. Das Wasser schmatzt leise an den Ständern des Plateaus. Ab und an platscht es, wenn ein Fisch ein Insekt aus dem Wasser heraus schnappt. 
Nach einer Weile werde ich dann doch müde und strecke mich im Schlafsack aus. Doch ich schlafe nicht lange, gegen 2:30 Uhr bin ich wieder wach. Es ist nun deutlich heller und die Wasservögel sind erwacht und lassen ihr Geschnatter hören. Nicht einmal eine ganze Stunde später ist es so hell, dass ich ohne künstliche Lichtquelle schreiben kann. Der Mond steht inzwischen recht hoch am südöstlichen Firmament und das Morgenrot breitet sich über den gesamten östlichen Himmel aus. 
Gegen vier Uhr ist das Rot einem Goldgelb gewichen. Der Sonnenaufgang steht kurz bevor. Auch wenn ich diese Nacht so gut wie keinen Schlaf gefunden habe, weiß ich schon jetzt, dass dies eine der großartigsten Nächte ist, die ich je erlebt habe. Ich bin froh, dass nicht Bequemlichkeit und irrationales Sicherheitsbedürfnis überhand genommen hatten, die mich nämlich davon überzeugen wollten, einfach die Rücksitzbank des Volvo umzuklappen und im Auto zu pennen. 
Die Sonne strahlt von unten ein paar Stratocumuluswolken an, die in nordwestlicher Richtung langsam über den Himmel ziehen. Bald wird sie ihre ersten Strahlen über die Baumwipfel am gegenüberliegenden Ufer schicken. Das Seewasser spiegelt die goldgelb-orang-blassblaue Färbung des Himmels wider. Die Wasservögel haben ihr Gequake inzwischen wieder eingestellt, dafür sind nun Waldvögel zu hören. Immer wieder springen kleine Fische aus dem Wasser und schnappen nach Mücken. Am Ufer hinter mir steigt leichter Neben auf und zieht über das Wasser. Gegen 5:10 Uhr steigt die Sonne über die Baumwipfel. Es ist großartig, dies erleben zu können. 

Sommer 2019