Benny

 

Als ich Benny im vergangenen Jahr kennenlerne, ist er in der zweiten Hälfte seiner Achtziger. Und er ist Wirt im Strynø Kro, dem Dorfkrug auf Strynø. Wir haben Hunger (und Durst), als wir uns auf zwei Stühle auf der Terrasse des Kro fallen lassen. Die Sonne scheint vom Himmel und es ist heiß, im Schatten an der Hauswand sitzen ein paar Ältere und trinken Albani, das lokale Bier aus Odense. Nach einer Weile erhebt sich einer von ihnen etwas schwerfällig, augenscheinlich der Älteste, braungebrannt, das volle Haar sehr kurz geschoren, und kommt an unseren Tisch. Benny. 

Die Frage nach einem Essen quittiert er zunächst mit langem Schweigen. Er wiegt den Kopf, wirkt etwas unwillig. Und verschwindet kommentarlos im Kro. Kurz darauf kehrt er mit zwei Flaschen Albani in der Hand zurück, nun freundlicher dreinschauend. 

Er könne uns was kochen, teilt er uns mit. Aber er suche aus, was. Ob wir damit einverstanden seien. Sind wir. Denn wir haben Hunger. Der Inselkaufmann hat schon Feierabend. Und eine weitere Möglichkeit, an diesem Abend noch an was Essbares zu kommen, gibt es nicht – wenn wir uns nicht über die Müslivorräte in unserem Ferienhäuschen hermachen wollen. 

Benny verschwindet wieder im Kro. Durch die offene Tür hören wir ihn werkeln und klappern. Und sind sehr gespannt, was er uns wohl servieren wird. Derweil genießen wir unser Bier und die Sonne und die friedliche Stille auf diesem kleinen, auf den ersten Eindruck so unscheinbaren, und doch so besonderen Eiland im südfünischen Inselmeer. Inzwischen hören wir das Brutzeln einer Bratpfanne und sehen durch die offene Türe Benny mit allerhand Küchengerätschaften hantieren. 

Nun, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, kommt er wieder heraus, platziert Tischsets, Servietten, Besteck und zwei Teller auf dem Tisch. Beim nächsten Mal trägt er ein Tablett mit mehreren Schüsseln, darin zwei Koteletts, Gemüse und Kartoffeln. Auch zwei frische Albani hat er nicht vergessen. Während wir essen, schaut er ab und zu an unserem Tisch vorbei und fragt „Smager det godt?“ Wir bejahen: die dänische Hausmannskost mundet uns vorzüglich. 

Nach dem Essen und zwei weiteren Albani kommen wir ein wenig ins Gespräch. Benny ist nach Strynø gekommen, als er Anfang 70 war, und hat den Kro übernommen. Er betreibt ihn alleine, ist Koch, Wirt und Kellner in einem. Da müsse er sicher viel arbeiten, frage ich. Er schaut mich ungläubig an. Das sei für ihn keine Arbeit. Er könne sich glücklich schätzen, sich tagein, tagaus seinem Hobby widmen zu können. „Wenn Arbeit nur Arbeit ist, dann wird es mühsam und anstrengend. Wenn Arbeit Hobby ist, dann bereitet es keine Mühe“, schließt er. Und ich denke, dass ich Bennys Geschichte gut als Anekdote in meinen Organisationsentwicklungsworkshops aufgreifen kann... 

Ein halbes Jahr später. Ich bin wieder auf Strynø, habe mein Apartment dort bezogen, das mir Paul angeboten und ich gemietet habe, um hier einen festen Anlaufpunkt zu haben. Es ist Freitagabend Ende März und ich bin gerade recht zufrieden, habe ich unter der Woche doch an den Texten für meine neue Homepage gearbeitet und die Entwürfe fertig gestellt. Ich will mich belohnen mit einem Abendessen bei Benny im Strynø Kro. Mein Dänisch reicht inzwischen soweit, dass ich dem Aushang an der Tür des Kro entnehmen kann, dass dieser im Winterhalbjahr nur freitags und sonnabends geöffnet hat und Abendessen zwischen 18 und 20 Uhr gereicht wird. Ich kann von meiner Wohnung auf den Kro schauen und erblicke Licht in den Fenstern. Er hat also tatsächlich auf. 

Als ich den kleinen Gastraum betrete, sind zwei Tische mit Bier trinkenden Menschen besetzt, von Benny aber fehlt jede Spur. Man nickt mir freundlich zu, ich setze mich an einen freien Tisch und beginne, in dem Buch über alternative Lebensentwürfe zu lesen, das ich dabei habe. Eine Weile vergeht, Benny taucht nicht auf. Irgendwann steht eine Frau – Lene, wie sich später herausstellen wird – vom Nachbartisch auf, kommt an meinen Tisch und fragt, was ich trinken wolle. Ich will ein Albani und frage sie, ob es denn auch was zu essen gäbe. „Ich glaube nicht“, ist ihre niederschmetternde Antwort. Ich sehe mich schon mit der Tüte Chips begnügen, die noch in meinem Küchenbord lagert (schon wieder hatte ich im festen Glauben an eine Abendmahlzeit im Kro nicht für einen gefüllten Kühlschrank gesorgt), während Lene ganz selbstverständlich hinter die Bar geht, einen Kühlschrank öffnet, und mir ein Albani bringt. 

Irgendwann taucht dann auch Benny aus einem der hinteren Räume auf. Ich wiederhole meine Frage nach einem Abendessen. Essen gäbe es nur in der Sommersaison, gibt mir Benny entgegen des Aushangs an seiner Tür zu verstehen. Und diese beginne erst am 15. Juni. Dann ein Lächeln. Aber er habe was da, ob ich Schnitzel möge. Und ob! 

Es wiederholt sich das Spiel, das ich schon vom letzen Sommer her kenne. Benny verschwindet Töpfe und Pfannen klappernd in der Küche. Von meinem Platz aus kann ich ihn durch die offene Küchentüre, zu der man hinter der Theke gelangt, beobachten. Nach einer Weile bekomme ich Tischset, Serviette, Besteck und Teller, wieder lächelnd vor mir auf dem Tisch drapiert. Mittlerweile ist nur noch der Nachbartisch mit Lene und ihrem Mann Lorens besetzt, die ein Albani nach dem nächsten mit beeindruckender Geschwindigkeit leeren. 

Wieder bringt Benny das Gericht in kleinen Schüsseln: Das Schnitzel mit Preiselbeer-Topping, eine Schale mit Pilzsoße, eine mit angebratenen neuen Kartoffeln, eine mit Erbsen und Möhren. Inzwischen habe ich echt Hunger und schaufele mir den Teller voll. Benny setzt sich zu Lene und Lorens an den Nachbartisch. Mehrfach fragt er, ob das Essen reicht. Es reicht vollkommen. Und als ich auf Dänisch radebreche, wie gut es schmeckt, freut er sich. 

Nachdem Benny meinen Tisch abgeräumt hat, bitten mich die Drei, sich zu ihnen zu setzen. So ist das hier auf Strynø. Und natürlich sind sie neugierig auf „den Neuen“. Wir unterhalten uns in einem Mix aus Englisch, Dänisch und Deutsch. Benny verschwindet immer wieder in der Küche und rührt mit einem Kochlöffel in einem Topf. Dann macht er Musik an, Oldies, fängt an mitzusingen und zu tanzen, während er sich über den Kochtopf beugt. Ich meine, dass er nicht ganz so schwerfällig geht wie im vergangenen Jahr. Schließlich kommt er mit einer Schale Milchreis wieder zu uns und verspeist diesen genüsslich. 

Es werden noch einige Albani geleert, bis wir uns alle auf den Heimweg machen. Socializing. Schließlich will ich ja nicht nur das Meer, die Ruhe und die Weite des Himmels genießen, wenn ich hier bin, sondern auch in Kontakt kommen mit den Leuten, die diese Insel als Lebensort auserkoren haben, weil hier die Uhren eben noch etwas anders ticken. Und weil es hier so etwas gibt: einen Dorfkrug als one-man-business, betrieben von einem fast Neunzigjährigen. Anderenorts wäre da schon längst die Zeit drüber hinweggegangen. 

Was nehme ich diesmal mit von meinem Besuch im Strynø Kro? Keine Anekdote, die sich in einen Organisationsentwicklungsworkshop einbauen ließe. Aber vielleicht etwas für ein Coaching: Bennys Beispiel zeigt, dass es niemals zu spät ist, etwas Neues zu beginnen. Nämlich dann, wenn du in dir spürst, dass du dafür brennst. Wenn einer mit über 70 einen Dorfkrug auf einer kleinen Insel eröffnen kann und mit fast 90 immer noch betreibt, dann kannst du auch sehr viel mehr von deinen Idealen verwirklichen, als du dir im Moment vielleicht noch vorzustellen vermagst. 

Strynø, 01/04/2023