Essay über den Umgang mit Zeit

Mit um die 20 - Orientierung: noch ein unbeschriebenes Blatt
Mit um die 30 - Hochleistung: Jonglage mit 2 Jobs und Promotion, kein Problem
Mit um die 40 - Karriere: Geschäftsbereichsleiter, 50+ Stundenwochen und kurz vorm Burn out

Mit um die 50 -  Life-Life-Balance: weniger Erwebsarbeit, minimalistischeres Leben und Zeit für Projekte, die Spaß machen



Im vergangenen Jahr bin ich 50 geworden. Und während viele meiner zumeist männlichen Altersgenossen unter Raubbau an sich selbst und ihren Familien fleißig an ihrer Karriere basteln oder „es geschafft“ haben - zumindest die, die dazu die Möglichkeit hatten -, wüsste ich gar nicht mehr, wie ich, wie noch vor zehn Jahren, eine 50+X Arbeitsstundenwoche plus Wegstreckenzeit unterbringen sollte. Ich bin langsamer geworden, denn ich brauche einfach Zeit, um Zeit zu haben. Um nicht zielgerichtete Dinge zu tun. Um den Raum für neue Ideen zu öffnen. Und um mich einzubringen.

    Sogleich meldet sich eine innere Stimme, während ich diese Zeilen schreibe, die da anhebt und sagt: „Also nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich bin natürlich leistungsfähig und kann total viel arbeiten.“ Denn das ist ja das, was erwartet wird in unserer Leistungsgesellschaft. Doch angesichts der Zunahme arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen – erst kürzlich habe ich irgendwo gelesen, dass bereits 68% der unter 30-Jährigen einen Burn out hatten oder Burn out gefährdet sind – ist es an der Zeit, einen kritischen Blick auf den Leistungsduktus und die immense Beschleunigung in den Arbeitswelten zu werfen.

    Zurück zu meiner sich rechtfertigenden inneren Stimme. Hinter dieser stecken folgende Fragen: „Darf man das eigentlich? Weniger arbeiten? Angesichts des Arbeitskräftemangels? Oder ist man dann faul? Der Gesellschaft nicht zuträglich? Ausruhen kann man schließlich im Ruhestand.“ Doch dann müssen wir ja all das nachholen, was wir während des Arbeitslebens verpasst haben. So werden dann Bucket-Lists abgehechelt bis zum Umfallen. Und nicht wenige fallen auch tatsächlich um.

    Es geht doch viel weniger darum, sich auszuruhen, nachdem man sich durch ein langes Arbeitsleben erschöpft hat. Es geht doch vielmehr um eine gesunde Ausgewogenheit. Ich habe im Übrigen gar nichts dagegen, etwas leisten zu wollen. Im Gegenteil. Wenn ich eine ganze Woche am Stück bei einem Auftraggeber bin und jeden Tag mit verschiedenen Gruppen arbeite, ist das Hochleistung: Konzentration und Aufmerksamkeit und das Gespür dafür, was die Gruppe gerade braucht, dürfen nicht nachlassen. 

    Die Frage ist vielmehr: Meine ich, das Woche für Woche tun zu müssen? Und mich dabei von meinem Biorhythmus zu entkoppen (wenn für den überhaupt noch ein Gespür da ist) und vom Biorhythmus der Natur? Sommers wie Winters immer auf dem gleichen hohen Level? Ohne Phasen der Erholung, weil auch die Freizeit überladen ist?

    Welchen Preis zahlen wir für diese Art zu leben? In meinen Augen einen zu hohen. Neben den gesundheitlichen Auswirkungen auch einen gesellschaftlichen, wie an den gesellschaftlichen Erosionen derzeit überdeutlich zu sehen ist. 

    Also: Ausgewogenheit zwischen Arbeiten und Müßiggang. Ausgewogenheit dient doch gerade dazu, meine Leistungsfähigkeit zu erhalten! Denn vielleicht möchte ich ja auch noch im Alter von 70 Jahren arbeiten. Das geht aber nicht, wenn ich völlig leer aus dem Arbeitsleben ausscheide: „Zum Glück ist das jetzt vorbei. Ich bin und habe fertig.“ Weil ich vorher meinte, 40 Jahre lang immer noch eine Schippe drauf legen zu müssen, mit diesem Ruhestandsversprechen im Hintergrund (welches sich sowieso nicht mehr halten lässt). Dass diese Leistungsdoktrin jedoch dazu führt, Raubbau an Körper, Geist und Seele zu betreiben, blenden wir aus. Aktionistisch und kurzsichtig erscheint es mir, sich diesem Joch zu unterwerfen.

    „Aber, die viele Arbeit, die muss doch gemacht werden“, werden jetzt manche einwerfen. Und ich entgegne: Worum geht es tatsächlich? Um die viele Arbeit, oder um die richtige Arbeit? Wieviel Arbeit wird tagtäglich eigentlich gemacht, die mehr schadet, als dass sie nützt? Und diejenigen, die diese Arbeit tun, können auch noch behaupten, sie seien die Leistungsträger, natürlich zurecht überfürstlich entlohnt? Dafür, dass sie Versicherungen verkaufen, die niemand braucht? Oder Investments? Oder Menschen durch Werbung verführen und manipulieren? Oder Waren um den Erdball senden, deren Produktion Ausbeutung von Natur und Menschen bedeutet? Oder dafür sorgen, dass unser Müll auf der anderen Seite des Globus Lebensräume zerstört? Oder wider besseren Wissens den materiellen Konsum immer weiter antreiben? Oder eine Überbürokratisierung steuern, die das Leben erschwert?

    Haben wir also wirklich zu viel Arbeit, die uns in den Leistungsdruck zwingt, oder sitzen nicht viel zu viele in einem Hamsterrad des unnützen Handelns? Haben wir uns nicht in eine unsägliche Sackgasse manövriert, in dem zu viel und falsche Leistung belohnt wird?

    Seit Menschengedenken gibt es diese Utopie, der Mensch möge sich durch technische Errungenschaften mehr und mehr von der Arbeit befreien. Die Wahrheit jedoch ist, dass der Leistungsdruck immer weiter steigt. Und der Anteil der Arbeit, der sich von den realen Lebensvollzügen immer weiter entfernt hat. Und der Anteil der Arbeit, der nicht wirklich sinnstiftend ist. Müssten wir nicht also diesen Kreislauf durchbrechen, viel leisten zu müssen, um viel zu konsumieren, um dann wieder viel leisten zu müssen, um unsere Kredite abzubezahlen, die wir aufgenommen haben, weil uns eingetrichtert wird, wir müssten viel konsumieren, damit unser Wirtschaftssystem nicht zusammenbricht und wir verarmen?

    In meiner Wahrnehmung hat allerdings diese materielle Ausrichtung schon längst dafür gesorgt, dass wir verarmen: Geistig. Seelisch. Spirituell. Und auch die materielle Verarmung droht, wenn wir weiter so ausbeuterisch mit den Ressourcen der Erde umgehen.

    Wenn wir offenbar eines nicht können, so ist dies, Maß zu halten. Und mit Augenmaß zu handeln. Die Maxime unserer Leistungsgesellschaft ist die persönliche materielle Bereicherung. Koste es, was es wolle. Und wir erlauben uns nicht ausreichend Muße, weil es zu schmerzhaft ist, in den Spiegel zu schauen und uns einzugestehen, was wir da eigentlich tagtäglich machen. Wir machen lieber einen Deckel drauf auf die Bedürfnisse, die sich nicht durch Leistung, Stärke, Karriere und Konsum befriedigen lassen. Die nicht laut kreischend und bunt schillernd daher kommen, sondern leise. Und sich vielleicht auch erst darin offenbaren, eigene Schwäche und Verletzbarkeit zuzulassen.

    Diese Bedürfnisse erfordern, Maß zu halten. Mit dem eigenen Leistungsanspruch. Mit dem Umgang der uns zur Verfügung stehenden Zeit. Mit dem eigenen Konsumverhalten. Und mit unserem Umgang mit unseren Mitmenschen. 

    Gelingt dies, eröffnen sich ganz neue Freiheiten. Nämlich solche, die sich nicht kaufen lassen. Sondern: Zeit für sich zu haben. Für Kreativität. Für Beziehungsgestaltung zu unseren Mitmenschen. Für Care- und Repair-Arbeit. Für den Blick aufs Wesentliche. Und entsprechendes Handeln. Das geht nur, wenn wir entschleunigen und aus dem Hamsterrad der Leistungs- und Konsumgesellschaft, so wie wir sie kennen, aussteigen. Und eben Sinnstiftendes mit unserer Zeit anfangen. Das ist meine Idee einer ausgewogenen Life-Life-Balance.