Ein Kreis schließt sich

Dass ein karriereorientiertes Mainstream-Leben im Grunde nicht meines ist, dass wusste ich eigentlich schon immer. Der Aufkleber "Bunte Fische schwimmen gegen den Strom" klebte nicht umsonst auf dem alten Audi 80, mit dem ich als 20-Jähriger durch die Gegend kurvte. Dennoch habe ich es weit gebracht in Sachen Karriere: immerhin bis zum Mitglied in der Geschäftsleitung eines mittelständigen Sozialunternehmens.
Doch der Preis dafür, lange Jahre meines Lebens mit dem - statt gegen den - Strom geschwommen zu sein, war hoch...

Erst ein drohender Burn Out gebot mir Einhalt - und läutete mit der Flucht in ein Sabbatjahr meinen persönlichen Wandelprozess ein. Diesen freiwilligen, und zugleich doch auch schmerzhaften Einstieg in meine Transformation habe ich in dem Buch "Einmal >reset< bitte. Erzählungen über die Wirkung einer selbst verordneten Auszeit" verarbeitet und zugänglich gemacht.

Seither sind über sechs Jahre vergangen. Sechs Jahre des Wandels. Schwierige Jahre. Mit einigem an Versuch und Irrtum. Zweifeln, auf dem richtigen Weg zu sein. Unklarheit, was die Zukunft bringen könnte, was sie wohl besser werden ließe als das Altbekannte.
Jahre der Ungeduld. Des Wunsches, schneller voranzukommen. Der Hektik und Stagnation.
Und Jahre der kleinen Schritte. Nicht des großen Wurfes. Nicht selten des Erstaunens darüber, wo nun dieser oder jener Durchbruch so scheinbar plötzlich herkomme. Jahre des Dranbleibens. Des Lernens. Des stetigen Verinnerns. Des Innehaltens und Integrierens. Des Flows.

Ein eigener Wandelprozess, das Loslassen von Altbekanntem, was, auch wenn es noch so schmerzt, doch einen sicheren Rahmen zu bieten scheint, ist kein Spaziergang. Er erfordert, sich selbst zu schauen. Direkt und ungeschminkt. Tief hinein in die eigenen inneren Abgründe. Er erfordert die Bereitschaft, sich zu häuten. Und sich selbst wirklich anzunehmen. Das Schattenkind und das Sonnenkind, die in einer und einem jeden von uns wohnen. Er erfordert zu lernen, im Regen zu tanzen.

In diesem Sommer 2024, so scheint es mir, schließt sich ein Kreis. Ich bin gehäutet, angekommen in meinem neuen Leben. Fast nichts ist mehr so, wie es 2017 war, als ich mich auf den Weg machte. Etwas ist auch geblieben. Bin ich ein anderer geworden? Nein. Aber ich erlaube mir, nun das zu leben, was wohl immer schon in mir war. Ich erlaube mir nun, der zu sein, der ich wirklich bin. Den verbanne ich nicht mehr in das Reich der Sehnsüchte.
Die wesentlichste Veränderung ist wohl, dass ich meiner Intuition inzwischen mehr vertraue, als der (vermeintlichen) Ratio. Wir haben im Grunde so viel (Lebens-)Weisheit in uns, sind aber so verhagelt von der vermeintlichen Logik des Rational-Funktionalen. Wenn man allerdings genau hinschaut, ist es just diese Logik, die mit kalter Präzision die Welt ausbeutet und die Lebensgrundlagen zerstört. Ziemlich unlogisch, oder? Den dieser Logik innewohnenden Wirrungen, 50 bis 60 Arbeitsstunden pro Woche zu kloppen, um mir dann über materiellen Konsum Ausgleich zu verschaffen, bin ich lange genug hinterhergelaufen. Wohin? Ja, eben. In den Burn Out. In eine handfeste Depression (Oh, Pst. Tabu. Sowas sagt man ja nicht. Ist der etwa nicht "leistungsfähig"?).
Ich arbeite inzwischen im Umfang von 50-60% einer Vollzeitstelle, also im Durchschnitt 20 bis 25 Wochenstunden etwa. Ich habe Phasen extremer Arbeitsdichte, die sich abwechseln mit Phasen unverzweckter Zeit. Wenn ich gesund bleibe, sehe ich keinen Grund, irgendwann in Ruhestand zu gehen. Ich bin in einer guten Life-Life-Balance. Ich folge beruflich dem, wofür ich brenne. Was das ist, davon handelt ausführlich meine Homepage und soll an dieser Stelle nicht vertieft werden.

Das Ankommen besteht vor allem darin, die beiden Pole in mir, den der Stabilität, Zugehörigkeit, Eingebundenheit, und den der Mobilität, Erkundung und Neugierde, nun tatsächlich miteinander verbunden bekommen zu haben und diese nicht länger als Widerstreiter in mir kämpfen zu lassen.
Im Außen drückt sich das darin aus, dass ich zwischen Dänemark und Deutschland pendele. Dabei ist Strynø der Ort für Zugehörigkeit, Eingebundenheit, zur Ruhe kommen und Entstehen lassen. Deutschland ist der Ort, meiner Erwerbstätigkeit nachzugehen, der Mobilität, Diversität, Leistungsbereitschaft. All das, was in mir ist, findet nun auch im Außen seine Entsprechung.

Was in den Phasen unverzweckter Zeit alles entstehen kann, ist schier unglaublich. Nichts von dem, was diesen Sommer war, war irgendwie planbar oder vorhersehbar. Und genau deshalb war es so großartig: Ich war diesen Sommer Zeltplatzmitbetreiber, Bühnenhelfer auf dem Ø-Festival in Rudkøbing auf Langeland, Mitorganisator der Bar auf dem Freiburger Agrikultur-Festival, Cafémitbetreiber, Kajakverleiher. Richtig: Da steht viel "mit". Denn miteinander im Tun zu sein steht für mich im Mittelpunkt, und nicht, das eigene Ego zu füttern, wie es erforderlich ist, wenn man mitschwimmen will im Strom der Mainstream-Leistungsgesellschaft.
Mit nichts von all diesen Dingen habe ich Geld verdient.  Aber das Leben hat sich wie ein Füllhorn über mich ergossen. Um wieviel kostbarer das ist als materieller Besitz, begreifen zum Glück inzwischen immer mehr Menschen. Im Miteinander entsteht was; das Gegeneinander, so wie wir es von klein auf in der Schule lernen, zerstört. Vor allem die (Mit-)Menschlichkeit.

Der Kreis schließt sich. Und wie der Anfang dieses Wandelprozesses findet auch seine Erfüllung Ausfluss in einem kreativen Prozess. Diesmal ist kein Buch daraus geworden. Sondern die EP "Traveler", die in diesem Sommer 2024 auf Strynø entstanden ist. In den Songs liegt all das, wohin mich mein Wandelprozess gebracht hat. 
Wenn ich schreibe, dass sich der Kreis schließt, dann meine ich damit nicht, dass ich meine Entwicklung abgeschlossen habe. Sondern, dass ich eine Wandelphase durchlaufen habe. Ich werde mich mein Leben lang weiter entwickeln. Wir alle tun das, wenn wir es zulassen. Ich freue mich drauf.

Möge ich annehmen und akzeptieren, was ist.
Möge ich offen sein für das, was kommt.
Möge ich mein Leben aktiv gestalten.